Es scheint einfacher, wenn man einen Gegner hat – Mit Dialog gemeinsam Denken lernen

Artikel gemeinsam denken
von Dr. Alexander Myhsok und Anna Jäger


Es scheint einfacher, wenn man einen Gegner hat – Mit Dialog gemeinsam Denken lernen

Beitrag in: pax_zeit 3_2020, S. 12/13

Von Dialog ist heute oft die Rede, wenn es um kommunikatives Verhalten geht. Immer wieder hören wir: „Wir führen einen Dialog.“ Das klingt gut. Doch wenn wir genauer hinschauen, erkennen wir: Gespräche zielen oft darauf ab, dass jeder Recht hat: Meinungen prallen aufeinander, jeder will sich durchsetzen, die Energie geht in ein Gegeneinander statt in ein gemeinsames Weiterdenken.

Die Notwendigkeit, echten Dialog einzuüben, nimmt auf der anderen Seite zu. Immer mehr Menschen im gesellschaftlichen und politischen Raum, in Unternehmen oder Non-Profit-Organisationen und Verbänden nehmen Kommunikation – vom Einzelgespräch über Meetings bis hin zu Aktionsgruppen – als verlorene Zeit und vergeudete Energie wahr. Sie suchen nach einer Gesprächsform, in der es keine Sieger-Verlierer-Dynamik gibt, in der sich durch gemeinsame Denkprozesse neue Horizonte erschließen. Eine spezifische Form des Dialogs, die auf diese Grundhaltung abzielt, geht zunächst auf den Philosophen Martin Buber zurück. Der amerikanische Physiker und Philosoph David Bohm hat die Gedanken Bubers aufgegriffen und neu aufbereitet.

Was ist das Wesen dieses Dialogs?

Das Wesen des Dialogs wird durch die Unterscheidung von der Diskussion klar. Diskutieren bedeutet im eigentlichen Wortsinn: „zerteilen, zerlegen“. Diskussion ist fast wie ein Tischtennisspiel, bei dem man die Ideen, die Bälle, hin- und her schlägt und damit versucht, zu gewinnen oder Punkte für sich zu sammeln. Diese Gesprächsform hat ihre Grenzen dort, wo wir über die Verschiedenartigkeit unserer Standpunkte hinausgehen wollen.

Hier setzt der Dialog an: Er will anstelle einer Sieger-Verlierer-Mentalität, dass alle Beteiligte einen Gewinn haben, sich auf eine Reise des Denkens machen, festgefahrenes Kommunikationsverhalten auflösen,

Buber hat in seiner uns heute etwas fremd anmutenden, aber berührenden Ausdrucksweise Voraussetzungen für den Dialog formuliert, die hier kurz angedeutet werden:

  • Die Bereitschaft zu einem echten Gespräch: „Im echten Gespräch geschieht die Hinwendung zum/zur Partnerin in aller Wahrheit.“ Das bedeutet: Ich nehme mein Gegenüber als Partnerin, als Gegenüber an, sage ja zu ihm/ihr, zu seinem/ihrem Denken, Fühlen, Wahrnehmen, zu seinem/ ihrem Sein.
  • Rückhaltlos sprechen, sich selbst unverkürzt einbringen – nicht zu verwechseln mit drauflosreden.
  • Dazu gesellt sich nach Buber die „Überwindung des Scheins“: „Schein wäre, wenn ich statt des zu Sagenden mich anschicke, ein zur Geltung kommendes Ich in den Mittelpunkt zu stellen“.

Martina und Johannes F. Hartkemeyer und L. Freeman Dhority haben Kernfähigkeiten herausgearbeitet, die den Dialog nach Buber/Bohm kennzeichnen.

Die Haltung eines Lernenden einnehmen

Sie erfordert Offenheit, Anfängergeist und die Bereitschaft, sich einzugestehen, dass ich in Wirklichkeit nichts weiß. Damit bin ich bereit, alte Denk- und Verhaltensmuster infrage zu stellen.

Radikaler Respekt

Ich achte dich und deinen Blick auf die Welt. Ich versuche auch, die Welt aus deiner Perspektive zu sehen.

Offenheit

Sie entsteht, „wenn zwei oder mehrere Personen bereit sind, sich voreinander von ihren eigenen Überzeugungen zu lösen, dadurch bereit sind, einander die eigene Denkweise mitzuteilen und offen zu sein dafür, dass der andere mich in meinem Denken beeinflussen kann“ (Bohm). Offenheit schließt Zuhören mit ein: mitfühlendes, mitgehendes Zuhören. Das meint bei meinem/r Gesprächspartnerin auf die tiefere Bedeutung der Worte zu horchen.

Von Herzen sprechen

Ich rede von dem, was mir wirklich wichtig ist, was mich wesentlich angeht. Ich rede nicht, um mich bemerkbar zu machen, um rhetorisch zu brillieren und vor allem nicht, um im Buber’schen Sinn zu scheinen. Dabei stelle ich auch meine Ängste, Sorgen zur Verfügung, teile meine Freuden mit.

Annahmen und Bewertungen offenlegen und produktiv plädieren

Sie als solche benennen und in der Schwebe zu halten, im Sinne von: „Das ist es, was ich gerade denke, aber ich könnte mich auch irren.“ Das führt zum produktiven Plädieren, bei dem ich meine Annahmen und Vorurteile offenlege, auch Zweifel benenne, mitteile, wo ich Bewertungen habe und dazu andere an meinem Denkprozess teilhaben lasse.

Verlangsamen

Zentrales Element ist, Kommunikation zu verlangsamen und dadurch die Qualität des Hörens, des Nachklingenlassens zu erleben. Symbolisch drückt sich dies mit der Verwendung eines Redesteins oder Redestabs aus. Nimmt ein Teilnehmer, eine Teilnehmerin den Stab oder Stein, ist er/sie berechtigt zu sprechen. Beendet er/sie den Beitrag, wird der Stab oder Stein wieder zurückgelegt. Dadurch entsteht Schweigen und Nachklingenlassen des Gesagten.

Einige Anwendungsgebiete des Dialogs:

Dialog kann stattfinden in sich regelmäßig oder unregelmäßigtreffenden Dialoggruppen mit oder ohne vorher festgelegtemThema.

  • Unternehmen und Organisationen, die auf eine andere Kultur der Kommunikation wertlegen, sind in der Zwischenzeit dazu übergegangen, sogenannte „schöpferische Dialoge“ einzuführen, als Teil, oder auch als Ersatz von Meetings.
  • Eine größere Verbreitung hat der Dialog im Bereich der Organisationsentwicklung (Peter Senge: Die fünfte Disziplin) erfahren.
  • Im politischen Bereich hat ein Dialogprozess in Tunesien zu einer politischen Lösung geführt, die mit der Verleihung des Friedensnobelpreises 2015 an das Dialog-Quartett ausgezeichnet wurde.

Der Dialog kann auch bei allen „normalen“ Gesprächen, Beratungen, Meetings praktiziert werden. Hier sehen wir auch einen Ansatz in den pax christi-Gruppen und in der pax christi-Arbeit insgesamt.