Ausgerechnet Müdigkeit - als ein konstrukiver Ansatz im Führungsalltag ...?

Artikel
von Anna Jäger


Betrachten wir unseren Alltag:

Alles ist heute durchorganisiert, festgelegt und getaktet von morgens bis abends. Schon im Privaten: vom morgendlichen Sport - Yoga, Tai- Chi - über die Meditation bis zur abendlichen Entspannungsübung, vom gesunden Essen, möglichst je nach Typ zur richtigen Zeit, in der richtigen Menge; manche zählen dabei die Kalorien. Manche legen sich tagsüber einen Schrittzähler an, um zu sehen, ob am Abend genügend Schritte getan sind: dazwischen die Arbeit mit derselben Taktung und Perfektion.

- ein individueller Blick:

Nicht nur der Körper, sondern der Mensch als Ganzes entwickelt sich unbemerkt zu einer Leistungsmaschine, die störungsfrei zu funktionieren und ihre Leistung zu maximieren hat.

- ein gesellschaftlicher Blick:

Gleichzeitig bringt diese Aktivgesellschaft eine exzessive Müdigkeit und Erschöpfung hervor. Diese psychischen Zustände sind für eine Welt charakteristisch, die arm an Negativem ist und dafür von einem Übermaß an Positivem beherrscht ist. Beispiel: Führungskräfte erleben es im beruflichen Alltag, positiv gefordert zu sein: Häufig erhalten sie jedoch von außen zusätzliche Anfragen, um in Vereinen, Politik, Gesellschaft aktiv mitzuwirken. Führung zieht weiteres Engagement und weitere Führungsaufgaben an.

Wir erleben eine Potenzierung des Positiven in unserer beruflichen und auch ehrenamtlichen Arbeit: Ansehen, Erfolg, Wertschätzung, Inspiration, Geld … Dieses zu viel bringt eine einseitige Lebensgestaltung mit sich, die krank machen kann.

Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Medientheorie an der HfG Karlsruhe, spricht von einem „zu viel an Positivität“, das „zu einem Infarkt der Seele“ führen kann.

Manche fallen am Abend wie „tot ins Bett“, manche werden als einziger Ausweg aus der Leistungsspirale zu Beginn des Urlaubs oder nach langen Aktivphasen krank. Manche ziehen sich zurück am Abend, schauen fern, lesen die Zeitung, isolieren sich, mummeln sich ein, manche können nur mit Alkohol abschalten.

Peter Handke spricht in seinem „Versuch über die Müdigkeit“ von einer „entzweienden Müdigkeit“, einer „Allein-Müdigkeit“.

Die Menschen fallen „…unaufhaltsam weg voneinander, ein jeder in seine höchsteigene Müdigkeit, nicht unsere, sondern meine hier und deine dort.“

Handke setzt dieser sprachlosen Müdigkeit eine „beziehungseröffnende, beredte und versöhnende Müdigkeit“ entgegen, eine Müdigkeit als ein „Mehr des weniger Ich“. Dadurch eröffnet sich ein Zwischenraum. Ein Raum der Freundlichkeit, der langsamen Formen. Handke erhebt die tiefe Müdigkeit gar zu einer Heils-, ja zu einer Verjüngungsform. Sie bringt das Staunen in die Welt zurück. Er setzt „der arbeitenden, zugreifenden, entschlossenen Hand die spielende Hand entgegen“. Eine Hand, die auch untätig in den Schoß gelegt werden kann im Zuhören und Anteilnehmen der Erfahrungen anderer, eine Hand; die aufnimmt was entgegenkommt, ohne gestalten zu müssen, einfach nur da ist.

Wohin könnte es gehen mit uns als Führungskräfte:

Meine These: Gelingt es uns, eine „du-geöffnete“ Müdigkeit im Alltag zuzulassen, in der Paarbeziehung, in der Familie, in den freundschaftlichen Beziehungen, in der Freizeit, dann verlangsamen wir unseren Alltag auf ein gesundes Maß jenseits der Leistungsmaschine. Denn unsere Seele spürt wieder, wann es reicht. Sie bekommt wieder eine Ahnung von: es ist gut, und: es genügt, es ist gut genug.

Anna Jäger