Zeitforscher ohne Uhr

Kolumne
von Alexander Myhsok


Vor zwei Jahren, am 09.11.2022, ist im Alter von 78 Jahren der Zeitforscher Karlheinz Geißler gestorben. „Er segnete das Zeitliche. Das hat er zwar sein Leben lang getan, jetzt aber endgültig“, schrieb sein Sohn Jonas auf LinkedIn. Dem Vater hätte der Duktus wohl gefallen, liebte er es doch, sein Wissen mit Humor zu vermitteln. Für sein Lebenswerk hätte Geißler mit den Life-Achievement-Award der Weiterbildungsbranche ausgezeichnet werden sollen. Den Preis erhielt er nun posthum (zitiert nach managerSeminare, Januar 2023).

Karlheinz Geißler hatte einen Namen, sicher aufgrund seiner vielen Publikationen, vor allem aber auch, weil er der Zeitforscher war, dem es nicht darum ging, die Zeit mehr zu nutzen, sondern sie besser zu nutzen.

Für Geißler galt, dass unser Verständnis von Zeit – und unser daraus folgender Umgang mit der Zeit – nicht etwa objektiv richtig sind, sondern ein Produkt unserer Kultur mit teils unerwünschten Nebenwirkungen.

Seine Perspektive von Zeit: Zeit ist mitnichten etwas, das wir manchmal „nicht haben“. Wir haben selbstverständlich Zeit. Und zwar immer, solange wir leben. Wir sind Lebewesen, die den Rhythmen der Natur unterworfen sind. Die Frage ist, wofür wir unsere Zeit einbringen wollen, was uns wirklich wichtig ist im Leben: „Wir haben nicht zu wenig Zeit, wir haben zu viel zu tun“. (Ein typischer Geißler-Satz)

Geißler war persönlich unfähig zu Beschleunigung, weil er sich als Fünfjähriger mit dem Poliovirus angesteckt hatte. Bei den Bildern, die wir von ihm kennen, sitzt er in einem Rollstuhl.

Geißler war nach seinem Studium von Ökonomie, Philosophie und Pädagogik mit Promotion zunächst als Berufsschullehrer tätig, wechselte dann in die Hochschulwelt und war von 1975 bis im Jahr 2006 an der Universität der Bundeswehr in München als Professor für Wirtschaftspädagogik tätig. Zeitforschung war für ihn eine Herzensangelegenheit – ein Bereich, den es als eigenständige Disziplin gar nicht gibt.

Noch zwei Zitate von Geißler:

„Die Vorstellung, dass Zeit Geld ist, ist in unserer Gesellschaft so dominant, dass wir Zeit intuitiv in Geld umrechnen. Das ist der Grund, warum uns ein zeitintensives Hobby oder selbst ein Tag mit der Familie manchmal ein latent schlechtes Gewissen bereitet: Wir haben dann sozusagen das Gefühl, gerade richtig viel Geld auszugeben.“ (Geißler in einem Interview im März 2020)

„Wer über Zeitdruck klagt, jammert in Wahrheit über die Folgen unbefriedigender Zeiterfahrungen und unzulänglicher Zeiterlebnisse“. (Ein Meinungsbeitrag, der 2009 in managerSeminare erschienen war).

Ich habe irgendwo gelesen (leider fehlt mir die Quelle), dass Geißler keine Uhr benutzt hat und trotzdem immer pünktlich war.